Ein grundlegendes Problem zeigte sich in den vorherigen Analysen: Bei Breitkomplextachykardien ist soviel „Bewegung“ im EKG, dass einzelne Abschnitte wie P-Wellen oder ST-Strecken überlagert und kaum isoliert betrachtet werden können. Es existieren verschiedene Algorithmen zur Differenzierung von Breitkomplextachykardien - der prominenteste davon stammt von den Brugada-Brüdern. Alternative Ansätze mit Beschränkung der Analyse auf einzelne Ableitungen wurden durch Vereckei (Ableitung aVR) und Pava (Ableitung II) vorgestellt. Die ausführliche Wiedergabe und Erläuterung der Algorithmen würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Bei Interesse können wir jedoch die entsprechende Übersichtsarbeit von Vereckei aus dem Jahr 2014 wärmstens empfehlen (Vereckei, A. (2014). "Current algorithms for the diagnosis of wide QRS complex tachycardias." Curr Cardiol Rev 10(3): 262-276.).
Aus unserer persönlichen Erfahrung lässt sich sagen, dass wir keinen der genannten als allgemeingültig oder „überlegen“ bewerten können. Die Kombination der einzelnen Kriterien scheint die diagnostische Qualität zu verbessern - wobei wir ausdrücklich darauf hinweisen, dass diese Vermutung auf einzelnen Erfahrungswerten beruht und nicht mit validen Daten belastbar ist. Damit ihr euch jedoch (vielleicht auch im praktischen Einsatz) ein eigenes Bild machen könnt, haben wir die Kriterien der Algorithmen von Brugada, Vereckei und Pava gemeinsam aufgelistet und stellen euch diese hiermit zur Verfügung.
Am konkreten Fallbeispiel möchten wir nun einmal einen möglichen diagnostischen Ablauf zeigen und damit dann auch (endlich 😁) den Fall auflösen. Bevor es allerdings losgeht, ein ganz wichtiger Tipp: Besorgt euch (wenn verfügbar) Vor-EKGs! Seht ihr hier im normofrequenten Sinusrhythmus einen LSB, dessen Morphologie exakt den QRS-Komplexen in der Breitkomplextachykardie entspricht, dann handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch hier um ein Blockbild. Ein weiteres Beispiel zur Bedeutung von vorherigen EKGs zeigen wir euch am Ende dieses Textes. Jetzt geht es aber erst einmal zu den einzelnen Kriterien und wir starten mit den Extremitätenableitungen:
QRS-Achse zwischen -90° und +/-180°
Ein für die Differenzierung von Breitkomplextachykardien gerne genutztes Kriterium ist der Lagetyp. Die Idee dahinter: Bei SVT + Blockbild folgt die Erregungsleitung zumindest in Grundzügen dem physiologischen Erregungsleitungssystem. Eine LSB oder ein RSB allein führt nicht zu einer ausgeprägten Lagetypabweichung. Tachykardien mit ventrikulärem Ursprung hingegen folgen meist nicht den physiologischen Leitungswegen, was entsprechend zu vollkommen abnormen Vektoren der Kammererregung (= Lagetyp) führen kann. Das Problem: Liegt neben einem kompletten RSB auch ein Hemiblock vor, so kann der Lagetyp sehr wohl abweichen. Im Umkehrschluss können ventrikuläre Tachykardien mit Ursprung in basalen Kammerabschnitten und Nähe zum Erregungsleitungssystem auch nur leichte Lagetypveränderungen aufweisen. Das Kriterium ist somit fehleranfällig.
Analyse der Ableitung aVR (nach Vereckei)
Wir bleiben in den Extremitätenableitungen und konzentrieren uns auf die Ableitung aVR. Dieser von Vereckei eingeführte Ansatz basiert im wesentlichen auf der selben Erklärung wie die extreme Lagetypveränderung. Beginnt der Kammerkomplex in aVR mit einem prominenten R (respektive R- oder Rs-Komplex), nimmt die Erregungsausbreitung einen vollkommen umphysiologischen Weg, was eher auf eine ventrikuläre Tachykardie hinweist. Im Beispiel ist dies nicht der Fall, aVR beginnt mit einer negativen Zacke (Q).
Eine weitere grundlegende Überlegung ist, dass bei QRS-Vebreiterungen infolge von Blockbildern der initiale Teil des Kammerkomplexes eher wenig deformiert sein sollte - hier läuft die Erregung schließlich zumindest zu 50% auf dem gewohnten Weg (der eigentliche „Block“ wird meist erst im zweiten Teil von QRS wirklich sichtbar). Hiermit beschäftigen sich die 3 weiteren Analyseschritte des Vereckei-Algorithmus - bei Interesse sei hier nochmals auf die entsprechende Publikation verwiesen. In konkreter Anwendung auf das Beispiel ist Q in aVR hier mit 40 ms grenzwertig verbreitert. Für eine Diagnose würde uns das aber noch nicht reichen.
Analyse der Ableitung II (nach Pava)
Ebenfalls in den Extremitätenableitungen und hier in der Ableitung II sucht die Methode von Pava nach der Lösung. Die Grundidee ähnelt dabei einem der genannten Annahmen von Vereckei: Folgt die Erregung zumindest in Teilen der physiologischen Erregungsleitung, sollte der initiale Teil der Kammererregung relativ zügig verlaufen, während bei ventrikulären Erregungsursprüngen (ventrikuläre Tachykardie) die Erregungsausbreitung vom ersten Augenblick an verzögert ist. Daraus folgt die Empfehlung, den Kammerkomplex in Ableitung II vom Beginn bis des Kommerplexes bis zum ersten positiven oder negativen Ausschlag zu beurteilen (Alternativ wird dies auch als "R-wave-to-peak-time" bezeichnet). Liegt hier die Zeitspanne unter 50 ms, wird eher von einem supraventrikulären Erregungsursprung ausgegangen, ab 50 ms ist die Kammertachykardie wahrscheinlicher.
Das war es mit den Extremitätenableitungen - weiter gehts in der Brustwand: Analyse der Brustwandableitungen mit Brugada-Kriterien.
Auch hier gibt es gewisse grundlegende Gedanken, an denen sich die Kriterien orientieren. Die Brustwandableitungen von V1 bis V6 „scannen“ das Herz einmal vollständig in der horizontalen Ebene - und damit auch von links nach rechts. Bei den Blockbildern werden die Ventrikel nicht synchron, sondern nacheinander erregt. Entsprechend muss die Erregung hier im Verlauf entweder (beim RSB) „von links nach rechts“ oder (beim LSB) „von rechts nach links“ gelangen. Diese „Wanderung“ zeigt sich in den Brustwandableitungen durch eine Veränderung der Polarität der Kammerkomplexe, so dass es Ableitungen mit überwiegend positiven wie auch mit überwiegend negativen oder zumindest biphasischen Komplexen geben sollte. Sind hingegen die QRS-Komplexe in allen Brustwandableitungen durchgehend negativ oder durchgehend positiv (also konkordant), spricht das eher für einen ventrikulären Erregungsursprung. Im Beispiel besteht eindeutig keine Konkordanz (positive QRS in V1 bis V3, überwiegend negative QRS in V4 bis V6).
Auf dieser Überlegung basiert auch das Brugada-Kriterium der RS-Komplexe. Wie erläutert, ist bei Blockbildern ein Umschlag der QRS-Polarität entlang der Brustwandableitungen zu erwarten - es sollte also mindestens eine Ableitung mit RS-Komplex geben. Im Beispiel ist das eindeutig in V3 der Fall.
Das Brugada-Kriterium des längsten RS-Intervalles folgt der bereits erläuterten Annahme der langsamen ventrikulären Aktivierung bei ventrikulärem Erregungsursprung. Letztendlich wird hier also, wie schon bei den Analysen der Ableitungen aVR und II, genau beobachtet, wie lange die Zeit vom Beginn des QRS-Komplexes bis zum Maximum der Kammererregung ist. In den Brustwandableitungen wird dafür das längste Intervall von Beginn des Kammerkomplexes bis zur Spitze der S-Zacke gemessen. Dauert dies länger als 100 ms, erfolgt die Aktivierung der Ventrikel so langsam, dass von einem ventrikulären Erregungsursprung ausgegangen wird. Im Beispiel haben wir ganz genau gemessen - und die maximale RS-Dauer bei 80 ms festgestellt.
Mit den „Morphologie-Kriterien“ geht die Analyse nach Brugada in die Tiefen des EKG. Salopp könnte man auch sagen: „Wenn Du glaubst, dass die QRS-Vebreiterung aufgrund eines RSB oder LSB zustande kommt, dann schau auch wirklich genau hin, ob das EKG nach einem Blockbild aussieht.“ Wer diese exakten Definitionen nicht im Kopf hat, kann sie in der Übersicht nachlesen ;-). Interessant (weil deutlich besser in der Handhabe) ist dabei jedoch die Beschreibung der QRS-Dauer. Hier ist die Überlegung folgende: Blockbilder können den Kammerkomplex verbreitern - aber nur bis zu einem gewissen Maß. Exzessive QRS-Verbreiterungen (> 140 ms bei RSB-Morphologie, > 160 ms bei LSB-Morphologie) sprechen für einen ventrikulären Erregungsursprung, also eine ventrikuläre Tachykardie. Im Beispiel sind die Komplexe mit 180 ms (bei RSB-Morphologie) deutlich verbreitert.
Allgemeine Kriterien. Da die QRS-Dauer nicht auf die Brustwandableitungen beschränkt ist, gehört sie streng genommen auch zu den „allgemeinen Kriterien“. Da sie jedoch explizit in den Brugada-Kriterien zur QRS-Morphologie beschrieben wurde, haben wir sie auch dort belassen. Trotzdem verbleiben noch 2 wirklich allgemeine Kriterien:
Das Brugada-Kriterium der AV-Dissoziation ist der stärkste Indikator für die korrekte Diagnose, aber leider auch der am schwierigsten zu bestimmende. Die Idee ist einfach. Wenn bei einer Breitkomplextachkardie eine vollständige Dissoziation von Vorhof- und Kammeraktion besteht, dann handelt es sich um eine ventrikuläre Tachykardie. Das Problem dabei: Zur Beurteilung einer AV-Dissoziation muss die Vorhofaktivität bestimmbar sein. Wie eingangs beschrieben (und im Beispiel gut sichtbar), ist aber gerade das durch Überlagerungen schwer bis unmöglich. An dieser Stelle möchten wir doch noch etwas genauer auf unser Fallbeispiel eingehen und zeigen, wie man Vorhofaktionen „suchen“ kann.
Ganz wichtig dabei ist (wenn verfügbar) das Vor-EKG. Im aktuellen Fall liegt uns ein solches ja vor - zur Erinnerung: Vorhofflattern mit 2:1-Überleitung. Hier haben wir uns das Flattern also noch einmal ganz genau angeschaut.
Der Abstand zwischen 2 Flatterwellen (also die atriale Zykluslänge) beträgt hier etwa 240 ms - entsprechend einer Vorhoffrequenz von 250/Minute. Bei 2:1-Überleitung ergibt sich damit logischerweise eine Kammerfrequenz von 125 /Minute - wie im initialen EKG zutreffend. In der Breitkomplextachykardie liegt die Kammerfrequenz nun bei etwa 160/Minute - also einer Frequenz, die sich nich mit keinem sinnvollen Überleitungsverhältnis mit der Vorhoffrequenz von 250/Minute vereinbaren lässt.
Unter der Annahme, dass das Vorhofflattern weiter besteht, ist also allein hierdurch eine AV-Überleitung (mit Blockbild) eher unwahrscheinlich. Also haben wir das Vorhofflattern „gesucht“. Zumindest ansatzweise fündig geworden sind wir in Ableitung aVF, wo sich in der ersten Hälfte des Ausschnittes 3 negativer „Zacken“ zwischen den Kammerkomplexen zeigen. Das ist noch nicht viel, eines ist jedoch auffällig: Die Abstände zwischen diesen vermeintlichen sind identisch - und betragen dabei 36 mm. Bei der Schreibgeschwindigkeit von 50 mm/Sek. entspricht das 720 ms. Mit dieser Beobachtung haben wir die atriale Zykluslänge im initialen EKG hervorgekramt - 240 ms. Und siehe da - 3 x 240 ms sind exakt 720 ms.
Natürlich sind das nur Beobachtungen und Vermutungen - aber mehr bleibt manchmal nicht wenn es darum geht, überlagerte Vorhofaktionen im Oberflächen-EKG zu finden. Die Arbeitshypothese lautet also: Durchlaufendes Vorhofflattern mit unveränderter atrialer Zykluslänge von 240 ms und damit hochgradigem Verdacht auf AV-Dissoziation.
Capture Beats. Werden bei einer Breitkomplextachykardie vereinzelt einfallende Komplexe mit schmalem QRS beobachtet, so ist quasi bewiesen, dass es sich im Grundrhythmus um eine ventrikuläre Tachykardie handeln muss. Da in unserem Beispiel keine Capture Beats aufgetreten sind, können wir euch diese hier nicht zeigen.
Das wäre es dann auch schon. Wie ihr seht (und das wusstet ihr auch schon vorher) ist die Differenzierung von Breitkomplextachykardien im Oberflächen-EKG nicht immer ganz einfach. Es gibt nach unserer Erfahrung nicht „den einen Marker“, der eine sichere Diagnose ermöglicht. Vielmehr haben wir versucht, in den verschiedenen Ansätzen Schnittmengen zu finden und damit nicht strikt nach einzelnen Algorithmen zu analysieren, sondern einen strukturierten Untersuchungsablauf zu entwickeln, welchen wir nach den Ableitungssystemen (zuerst Extremitäten- dann Brustwandableitungen) aufgebaut haben. In der praktischen Anwendung müssen sicher nicht immer alle Untersuchungsschritte zur Anwendung kommen. Vielmehr sehen wir die Auflistung der Kriterien als Möglichkeit, das EKG so differenziert wie nötig zu untersuchen.
Und damit wollen wir nun endlich den Fall auflösen: Nach den genannten Kriterien sprechen im EKG-Beispiel die folgenden für eine ventrikuläre Tachykardie:
Extremitätenableitungen:
Extreme Lagetypabweichung
Grenzwertig breite Q-Zacke in aVR
Brustwandableitungen:
Intrinsicoid Deflection / R-Wave-to-Peak in II > 50 ms
R/S < 1
QRS-Dauer bei RSB-Morphologie 180 ms
Allgemeine Kriterien:
V.a. AV-Dissoziation
Vom EKG her bestand also der Verdacht auf eine ventrikuläre Tachykardie als Ursache der Breitkomplextachykardie. Da der Patient klinisch durchgehend stabil war, wurden wiederholt Adenosin-Versuche durchgeführt (für diejenigen von euch, die darauf von der ersten Zeile an gewartet haben: Ja klar, das ist auch diagnostisch eine Option. Aber wir wollten doch erst einmal das EKG besprechen 😉) - es wurde kein Effekt beobachtet. Entsprechend musste von einer ventrikulären Tachykardie ausgegangen werden. Nach 300 mg Amiodaron-Bolus kam es zur Rhythmuskonversion in das bereits vorbestehende Vorhofflattern (nun mit 3:1-Überleitung), welches im Verlauf und unter fortgesetzter Amiodaron-Aufsättigung in einen Sinusrhthmus konvertierte.
Echokardiographisch zeigte sich eine inferiore Hypokinesie, in der Koronarangigrafie erfolgte dann die Erstdiagnose einer koronaren Herzkrankheit mit subakutem, distalem RCA-Verschluss
Das Wichtigste bei der Analyse ist eine strukturierte Vorgehensweise. Vielleicht helfen dir unsere Schemata "6Richtige" und "BLiQ" dabei. Und übrigens: Natürlich bearbeiten wir Fälle und EKG wie diese ausführlich in unseren Kursen - für Sicherheit, Struktur und Verständnis bei der EKG-Diagnostik 😊.
Quellen:
1.: Vereckei, A. (2014). "Current algorithms for the diagnosis of wide QRS complex tachycardias." Curr Cardiol Rev 10(3): 262-276.
2.: Schumacher, B., et al. (2009). "[Regular tachycardia with broad QRS complex: differential diagnosis on 12-lead ECG]." Herzschrittmacherther Elektrophysiol 20(1): 5-13.
3.: Kindwall, K. E., et al. (1988). "Electrocardiographic criteria for ventricular tachycardia in wide complex left bundle branch block morphology tachycardias." Am J Cardiol 61(15): 1279-1283.
4.: Conover: Understanding Electrocardiography, EightEdition. St. Louis, Missouri, USA: Mosby, 2003.
5.: Wellens, Conover: The ECG in Emergency DecisionMaking, Second Edition. St. Louis, Missouri, USA: Saunders Elsevier, 2006.
6.: Zipes, D.P., J. Jalife, andW.G. Stevenson, CardiacElectrophysiology: FromCelltoBedside. 7th ed. 2017, Philadelphia, United States ofAmerica: Saunders W.B.
7.: Baltazar. Basic andBedsideElectrocardiography.Philadelphia: Lippincott Williams andWilkins: 2009.
8.: G. S. Wagner, D. G. Strauss. Marriott´sPracticalElectrocardiography.12th Edition. Philadelphia: Lippincott Williams andWilkins: 2014.
9.: Surawicz, Knilans: Chou´sElectrocardiographyin Clinical Practive, SixthEdition. Philadelphia, USA: Saunders Elsevier, 2008.