Aufgrund von Artefakten sind nicht alle Ableitungen ganz einfach zu beurteilen - insgesamt ist die Qualität des EKG aber für die Diagnose absolut ausreichend.
1. Eine geordnete Kammeraktivität liegt vor.
2. Die QRS-Frequenz liegt knapp unter 100 / Minute.
3. Die QRS-Komplexe sind auf 120 ms verbreitert (gelbe Markierung in den BWA).
4. Die QRS-Komplexe sind regelmäßig (keine RR-Differenz > 160 ms).
5. Es ist eine regelmäßige und monoamorphe Vorhofaktivität erkennbar (blaue Pfeile).
6. AV-Ratio 1:1, PQ-Zeit knapp über 200 ms und konstant.
Diagnose: Normokader Sinusrhythmus, AV-Block I°.
B: Bei verbreiterten QRS-Komplexen und Erregungsursprung auf Vorhofebene besteht der Verdacht auf eine ventrikuläre Reizleitungsstörung. Die QRS-Morphologie (V1, I) passt zu einem Rechtsschenkelblock (RSB).
L: Beim RSB erfolgt die Lagetypbeurteilung nur innerhalb der ersten 60 - 80 ms des QRS-Komplexes. Auch hier lässt sich jedoch über den höchsten positiven Ausschlag in aVL und eine tiefe S-Zacke in II ein überdrehter Linkstyp bestimmen. Somit kann die bereits gestellte Diagnose eines RSB um die eines linksanterioren Hemiblockes (LAHB) erweitert werden - es liegt ein bifaszikuläres (in Kombination mit dem AVB I° zum Teil auch als trifaszikulär bezeichnetes) Blockbild aus RSB und LAHB vor. Eine Anmerkung für die Fortgeschrittenen unter euch: Vielleicht ist euch bei der Analyse des RSB aufgefallen, dass hier nicht alle Kriterien eindeutig erfüllt wurden. Das tiefe S in aVL wie auch die terminale Positivität in III fehlen und passen damit eigentlich nicht zum klassischen RSB. Über den LAHB erklärt sich dies - ein linksanteriorer Hemiblock kann Zeichen des Rechtsschenkelblockes „auslöschen“ - wobei die Diagnose dennoch gelingt (hier über V1 und I).
i: ST-Strecken-Hebungen im J-Punkt sind in aVR (0,2 mV) und V1 (0,1 mV) sichtbar. Da diese Ableitungen anatomisch nicht korrespondieren, werden die STEMI-Kriterien nicht erfüllt. ST-Strecken-Senkugngen vom horizontalen und aszendierenden Typ sind sichtbar in I, II, aVL, aVF, V3, V4, V5, V6. Teilweise liegen hier auch T-Negativierungen vor.
Q: Die QT-Zeit wird orientierend über die Methode des 1/2-RR-Intervall abgeschätzt und ist hiernach nicht auffällig verlängert.
Arbeitsdiagnose: Bifaszikuläres Blockbild mit RSB und LAHB, multiple Erregungsrückbildungsstörungen.
Die Frage nach der definitiven Diagnose ist damit (absichtlich) noch nicht beantwortet. Und dies nutzen wir für eine wichtige Regel bei der EKG-Befundung: Wenn man ein Muster (EKG-Bild) nicht kennt, bzw. nicht direkt identifizieren und benennen kann, dann sollten die Veränderungen zunächst beschrieben werden. Im Anschluss kann man mit einigen Grundlagen-Kenntnissen und ein wenig logischem Denken zum Ziel gelangen. Hilfreich ist es dabei, sich den Vektorverlauf auch bildlich klar zu machen - zum Beispiel so:
Die multiplen ST-Strecken-Veränderung sind hinweisend auf eine Erregungsrückbildungsstörung. Wenn man die Hebungen und Senkungen auf das Ableitungsschema überträgt, dann muss der sogenannte „Verletzungsvektor“ in Richtung der Ableitung aVR (größte ST-Hebung) zeigen. In den anatomisch gegenüberliegenden Extremitätenableitungen I, II, aVL, aVF sind entsprechende ST-Senkungen zu sehen. Ähnliches lässt sich für die Brustwandableitungen V3 - V6 beobachten.
Wie kommt solch ein starker Vektor zustande?
Nach dem Vektorverständnis kommen theoretisch 2 Ursachen in Frage:
1. Eine große Ischämie im Bereich des rechten Ventrikel und/oder rechten Vorhofes, welche die ST-Hebung in aVR erklären würde. Diese theoretische Überlegung kann verworfen werden, da die Muskelmasse des rechten Herzens nicht ausreicht, um derartig starke Vektoren zu erzeugen - immerhin sind die Veränderungen hier in nahezu allen (auch linksventrikulären) Ableitungen sichtbar.
2. Eine ausgeprägte Innenschichtischämie des linken Ventrikels. Und dies ist des Rätsels Lösung: ST-Strecken-Senkungen in nahezu allen linksventrikulär orientierten Ableitungen sind Ausdruck einer großen Ischämiezone in diesem Bereich. Die ST-Hebung in aVR (und angedeutet in V1) ist ein reziprokes Zeichen und somit eine Vektorprojektion.
Und was ist nun die Ursache für so eine ausgeprägte Ischämiezone?
Auch hier kommen nach dem anatomischen Verständnis 2 Optionen in Frage:
1. Koronare Mehrgefäßerkrankungen mit signifikanten Stenosen der großen Hauptgefäße können zu einer Minderdurchblutung multipler linksventrikulärer Abschnitte führen.
2. Eine Verengung des Hauptstammes der linken Koronararterie kann logischerweise ebenfalls zu einer Minderversorgung der nachgeschalteten Gefäße und damit auch des Myokardes führen.
Das resultierende EKG-Bild mit der Kombination aus multiplen ST-Senkungen und ST-Strecken-Hebungen in aVR ist typisch und hat so Eingang sowohl in die „STEMI-Versorgungsleitlinie 2017“ wie auch in die „4. universelle Definition des Myokardinfarktes (2018)“ gefunden.
Der im Fallbeispiel beschriebene Patient sollte somit umgehend in ein Zentrum mit PTCA-Bereitschaft und (nach Möglichkeit) angeschlossener Kardiochirurgie verbracht werden.
Ging dir das zu schnell? Das Wichtigste bei der Analyse ist eine strukturierte Vorgehensweise. Vielleicht helfen dir unsere Schemata "6Richtige" und "BLiQ" dabei. Und übrigens: Natürlich bearbeiten wir Fälle und EKG wie diese ausführlich in unseren Kursen - für Sicherheit, Struktur und Verständnis bei der EKG-Diagnostik 😊.